Die Integrationsvorklasse an der Aloys-Fischer-Schule

An einer Stellwand im Klassenzimmer hängen bunte Poster, Steckbriefe zu verschiedenen Berufen: „Rechtsanwältin“, „Arzt“ und „Regisseur“ steht da, aber auch „Kfz-Mechatroniker“ und „Industriekaufmann“. Das sind die Berufsziele der Schüler der IVK der Fachoberschule in Deggendorf, die sie im Deutschunterricht präsentieren müssen. Ambitioniert sind viele dieser Ziele, aber für eine „normale“ 10. Klasse weitgehend realistisch. Auch für diese Schüler?

Die Klassenlehrerin Frau Hench hat ihre Zweifel. Denn diese Klasse ist anders – für sie gelten nicht die üblichen Maßstäbe, Vorstellungen, Erfahrungswerte. Das Kürzel „IVK“ steht für „Integrationsvorklasse“, und der aktuelle Jahrgang ist der zweite an der Aloys-Fischer-Schule. Die derzeitige Klasse besteht aus 4 Schülerinnen und 9 Schülern, fast alle von ihnen kommen aus dem Bürgerkriegsland Syrien, neben einer Kroatin und einem in Spanien aufgewachsenen Rumänen. Sie befinden sich in einem vom bayrischen Kultusministerium 2016 initiierten Schulversuch, dessen Ziel es ist, jungen Migranten mit guten schulischen Vorkenntnissen und der entsprechenden Leistungsbereitschaft den Besuch einer weiterführenden Schule zu ermöglichen. Um das zu schaffen, bekommen sie an der FOS schwerpunktmäßig Unterricht in Deutsch und Deutsch als Zweitsprache, aber auch in Mathematik, Englisch und mehreren anderen Fächern.

Viele der 16- bis 26-jährigen kommen aus gebildeten Familien, ihre Eltern waren in Syrien vielleicht Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure. Zuhause hätten sie wohl studiert, zumindest das Abitur gemacht. Allen gemeinsam ist: Ihre Bildungsbiografien wurden, teils jäh, unterbrochen. In dem Alter, in dem deutsche Schüler ihren Mittleren Schulabschluss oder das Abitur absolvieren, befanden sie sich im Krieg, im Ausland, auf der Flucht. Die meisten Schüler sind ohne Eltern nach Deutschland gekommen, und natürlich ohne Deutschkenntnisse. Hier leben sie im Heim, alleine, bei Verwandten oder in WGs, häufig müssen sie sich ein Zimmer teilen. Ihre Familien sind oft in ganz Europa oder der Welt verstreut, sie selbst sorgen sich um Eltern und Geschwister, die noch in Kriegsgebieten leben. So kann es passieren, dass ein Schüler plötzlich aus dem Klassenzimmer rennt, weil er den tagelang erwarteten Anruf aus Aleppo bekommen hat. Natürlich sind Handys oder gar Telefonate im Unterricht nicht erlaubt, doch wie so oft in der Integrationsvorklasse stellt sich die Frage: Kann man diese Schüler immer mit den gleichen Maßstäben messen wie die deutschen?

Der Spagat zwischen der Beachtung der individuellen Lebensumstände der Schüler und dem Ziel Integration ins deutsche Schulsystem ist wohl die größte Herausforderung in der IVK. Jungen und Mädchen in einem Klassenzimmer, Gruppenarbeiten, Diskussionen, selbstgesteuertes Lernen – einen solchen Unterrichtsstil sind die im arabischen Raum sozialisierten Schüler meist nicht gewohnt. Sie kennen Frontalunterricht und autoritäre Lehrer, die auch vor körperlichen Strafen nicht zurückschrecken. „In der ersten Woche“, so erinnert sich die Klassenlehrerin, „hat mich einer der älteren syrischen Schüler nach dem Unterricht um ein Gespräch gebeten. Darin hat er sich für das störende Verhalten einiger seiner Landsleute entschuldigt. Sie seien es einfach nicht gewohnt, dass sie vom Lehrer für Fehlverhalten nicht geschlagen werden.“

Die Ordnungsmaßnahmen, die die Schulordnung in Deutschland vorsieht, sind den IVK-Schülern hingegen äußerst fremd. Verweis, Attestpflicht? Das sind zunächst genauso böhmische Dörfer wie Ordnungsdienst, Vertretungsplan, Stegreifaufgabe – oder auch Wandertag, Weihnachtsgottesdienst, Faschingsball. „In einer Regelklasse teile ich einfach einen Elternbrief zum Elternsprechtag aus, in der Integrationsvorklasse muss ich erst einmal erklären, was ein Elternsprechtag ist und wie der abläuft. Ganz zu schweigen davon, dass die meisten gar keine Eltern haben, denen sie den Brief geben könnten.“ Das viele Erklären kann mühsam sein und zeitraubend, aber so funktioniert Integration. Die vielen fremden Begriffe, Vokabeln und Konzepte, die für Deutsche im alltäglichen Miteinander selbstverständlich sind, müssen Stück für Stück für die Integrationsschüler vertraut und lebendig werden. „Wie können wir integrieren?“ haben sie schon gefragt. Viele Schüler, so die Erfahrung der unterrichtenden Lehrkräfte, saugen wie Schwämme alles auf, was sie über die deutsche Kultur und Sprache lernen, wollen alles wissen und verstehen, wollen weiterkommen und Teil der Schulgemeinschaft und Gesellschaft im Allgemeinen sein. Manche sprechen schon etwas Niederbayrisch, haben deutsche Freunde und Bekannte. Manchmal bedankt sich ein Schüler am Ende einer Unterrichtsstunde bei der Lehrkraft.

Umso schwerer fällt es dann, wenn die Schüler erkennen müssen, dass der gute Wille oft nicht reicht, dass die angestrebten Ziele unerreichbar sind oder dass es auf dem Weg zum angestrebten Schul- oder Berufsabschluss zumindest sehr, sehr viel Fleiß und Geduld braucht. Wer in Syrien schon Shakespeare gelesen hat, scheitert hier an einfachen Textaufgaben in Mathe, weil er nicht weiß, was ein Fasan ist. Der Schüler, der fünf Sprachen spricht, verzweifelt an der Groß- und Kleinschreibung im Deutschunterricht, die es in der arabischen Schrift nicht gibt.

Im letzten Schuljahr, dem ersten Jahrgang an der Aloys-Fischer-Schule, haben 12 von 13 Schülern die externen Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss an der Mittelschule St. Martin abgelegt, drei Viertel haben sie bestanden, die meisten nur knapp. Ungefähr die Hälfte der erfolgreichen Absolventen haben danach Berufsausbildungen angefangen, vier haben auf der FOS den Sprung in die reguläre 11. Klasse gewagt. Von diesen vier haben nun zwei die halbjährige Probezeit geschafft, zu den gleichen Bedingungen wie die Schüler, die mit Deutsch als Muttersprache im bayerischen Bildungssystem aufgewachsen sind. Einer der Elftklässler ist der 18-jährige Ali, der erst vor zwei Jahren ohne Familie aus Damaskus nach Deutschland kam und die M10-Prüfung als Klassenbester meisterte. „Ich gehe zweimal in die Schule“, sagt er, und meint damit, dass er den Stoff, den er im Technikzweig der 11. Klasse im Unterricht lernt, nachmittags noch einmal Fach für Fach mühsam aufarbeiten muss, um überhaupt mitzukommen. Aber wenn alles gut geht, macht er nächstes Jahr sein Fachabitur.

Auf einen solchen baldigen Erfolg können nicht alle der derzeitigen Integrationsschüler hoffen. Einige sind eher praktisch veranlagt und werden sich auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz machen, andere brauchen einfach mehr Zeit für das Erlernen der deutschen Sprache und werden nächstes Jahr in die reguläre FOS-Vorklasse gehen oder an andere (Fach-)Schulen wechseln. Vielleicht werden ehemalige IVK-Schüler in ein paar Jahren mit einer Ausbildung in der Tasche als Berufsoberschüler wieder kommen. Ob sie einmal in ihre Heimatländer zurückkehren können oder wollen, kann man nicht sagen, erst einmal zählt die Gegenwart. „Ihren Weg müssen sie schon selbst gehen“, sagt die Klassenleiterin, „aber es ist doch wichtig, dass sie bei uns eine Chance bekommen!“

Auch im kommenden Schuljahr kann wieder eine Integrationsvorklasse angeboten werden. Anmeldungen werden ab sofort entgegen genommen.