Was kann man als Lehrer machen, um sich fortzubilden? Es gibt Akademien, Online-Kurse, kollegiale Hospitationen und vieles mehr. Dank des EU-finanzierten ERASMUS+-Programms, gibt es eine weitere, unter Umständen spannendere Alternative: Job shadowing.
Nachdem es der Aloys-Fischer-Schule im zweiten Anlauf gelungen ist, eine Akkreditierung zu erhalten, die mehrere Projekte und Mobilitäten möglich macht, ergab sich für mich die Chance, für eine Woche als Gast an einem französischen Lycée – eine Schulart, die es ermöglicht, das baccalauréat zu erlangen, welches in etwa dem bayerischen Abitur entspricht und die Türen zur akademischen Laufbahn öffnet. Nun ist es dafür (Frankreich!?) eigentlich nicht nötig, um die halbe Welt zu fliegen. Es sei denn, dieses Lycée befindet sich auf dem französischen Überseegebiet La Réunion, einer Vulkaninsel im Indischen Ozean, und liegt ca. 11 Flugstunden von Paris entfernt in Saint André, dem zweitgrößten Ort der Insel. Der Kontakt dorthin kam ebenfalls über die gemeinsame Arbeit an einem ERASMUS+-Projekt zustande, bei dem Herr Jean-Marie Manicom Ramsamy Frankreich vertrat und sich eine Freundschaft entwickelte, die Früchte tragen sollte. Nachdem ich ihn vor ein paar Jahren für eine Woche bei mir zuhause im Rahmen eines Treffens in Liechtenstein aufgenommen hatte, konnte nun der Gegenbesuch erfolgen.
Land und Leute
Das französische Überseegebiet (DROM „Département ou Région d’outre-mer“) La Réunion liegt im Indischen Ozean östlich von Madagaskar und westlich von Mauritius. Aufgrund dieses Status sind die meisten der ca. 900000 Bewohner französische Staatsbürger und man bleibt trotz der Entfernung von ca. 9000 km innerhalb der EU. Dies erklärt ebenso, dass auf La Réunion das französische Schulsystem Anwendung findet, mit geringen Unterschieden z.B. bei den Ferien, die klimatisch bedingt etwas anders liegen als in Frankreich (z.B. 4 Wochen Ferien um Weihnachten, um dem été australe, also den schwülheißen Sommermonaten zu entgehen).
Die Bevölkerung dieser ursprünglich unbewohnten Insel setzt sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen, die zu unterschiedlichen Zeiten und mit verschiedenen Motiven dorthin gekommen sind. Neben Festland-Franzosen, die heute zum Arbeiten (auch Lehrkräfte an Schulen) kommen, gibt es zunächst die Nachfahren afrikanischer Sklaven, die auf den Zuckerrohr-Plantagen arbeiten mussten. Die Erinnerung an die Zeit der Sklaverei ist heute noch gegenwärtig. So tragen z.B. einige Vulkankrater die Namen entlaufener Sklaven, die sich in dem unzugänglichen Gebiet versteckt hielten. Der Namensgeber der gastgebenden Schule, Sarda Garriga, war ein französischer Gesandter, der am 20.12.1848 offiziell das Ende der Sklaverei proklamierte, ein Tag, dem heute immer noch mit einem Feiertag und großen Festivitäten gedacht wird. Eine weitere, später hinzugekommenen Gruppe, stammt aus unterschiedlichen Regionen Indiens. Diese Personen kamen freiwillig nach La Réunion, wo sie zunächst nur befristet bleiben sollten, und arbeiteten ebenso vorwiegend in der Landwirtschaft. Die Menschen blieben, wurden fester Bestandteil der Gesellschaft und formten ihre neue Lebenswelt. So findet man zahlreiche hinduistische Tempel, manche in Privatbesitz, die das Stadtbild durch ihre Buntheit und eine ausdrucksstarke Götterwelt in Form von Statuen mitprägen. Viele muslimische Einwohner La Réunions stammen ebenfalls aus Indien und anders als in Festlandfrankreich gibt es kaum Muslime aus den Maghreb-Staaten. Eine weitere Gruppe Menschen, die vorwiegend als Händler kamen und noch heute auf diesem Feld tätig sind, sind Einwanderer aus China. Andere Inselbewohner kamen praktisch aus der Nachbarschaft, denn sie stammen aus Madagaskar oder einem weiteren DROM: Mayotte. Diese Menschen suchen eine bessere Zukunft auf La Réunion, denn sowohl Madagaskar als auch Mayotte sind wirtschaftlich schwach und geprägt von Armut. Insgesamt ist auf La Réunion eine bunte Mischung von Ethnien und Religionen anzutreffen, die friedlich miteinander leben und die jeweils anderen Gruppen akzeptieren. Diese Diversität spiegelt sich natürlich auch in der Schülerschaft und bei den Lehrkräften wieder.
Schule und Unterricht


Am Lycée Sarda Garriga lernen circa 1200 Schüler, die von etwa 80 Lehrkräften unterrichtet werden. Ich durfte Unterricht in vielen unterschiedlichen Fächern besuchen und hatte darüber hinaus Gelegenheit, mich mit verschiedenen Mitarbeitern und Funktionsträgern der Schule, z.B. im administrativen (Begleitung eingeschränkter Schüler – Inklusion; Krankenstation) oder verwaltungstechnischen (Systembetreuer, Hausmeister) Bereich auszutauschen. Das Hauptaugenmerk lag jedoch auf der Beobachtung des alltäglichen Unterrichtsgeschehens, des Tagesablaufs von Schülern/Lehrkräften und systemimmanenter Besonderheiten. Einige davon sollen nun etwas genauer beleuchtet werden. Natürlich erlaubt eine einzige Woche mit Unterrichtshospitationen keine generellen Aussagen. Deshalb schildere ich hier meine Eindrücke.
Zunächst einmal stolpert man über zahlreiche Abkürzungen: AMI, SVP, AESH, CDI und viele mehr. Das Vokabular im französischen Schulsystem ist gespickt mit Abkürzungen, die verschiedenste Kurse, Ausbildungsrichtungen oder Funktionen bezeichnen, was selbst einen französischsprachigen Gast wie mich oft verdutzt stehen lässt. Ohne profunde Kenntnisse der Strukturen und Kurse ist man in diesem Gestrüpp leicht verloren. OK, unsere Schule nennt sich FOS/BOS, aber im Vergleich sind wir da harmlos unterwegs.
Insgesamt fällt einem bayerischen Lehrer natürlich auf, dass der Unterricht bereits um 7.20 beginnt und einen Schulstunde 60 Minuten dauert. Es ist zu bedenken, dass zahlreiche Schüler aus dem Umland bis zu einer Stunde mit dem Bus anreisen. Ein regulärer Schultag dauert außerdem – außer mittwochs, da findet kein Nachmittagsunterricht statt – bis um 17.05 (s. Stundenplan). Man kann sich also leicht ausmalen, wie lange manche Schüler auf den Beinen sind bevor sie wieder zuhause ankommen. Zeit für Hausaufgaben und Lernen, Sport, (Frei)Zeit mit Freunden – all das wird laut einiger Schüler, mit denen ich mich unterhalten habe zum knappen Gut. Die Lehrkräfte sind ebenfalls eingespannt und die Regel-Unterrichtszeit liegt zwischen 18 und 23 Wochenstunden. Lehrer, die freiwillig mehr unterrichten sind nicht selten, denn mit jeder zusätzlichen Stunde steigt das Gehalt an (PS: Lehrkräfte auf La Réunion verdienen ca. 30% mehr als ihre Kollegen auf dem Festland, was einen Aufenthalt auf Zeit natürlich nicht unattraktiver macht…). An meinem ersten Tag konnte ich zusätzlich erleben, dass im Anschluss an einen langen Arbeitstag noch eine Lehrerkonferenz angesetzt war.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Lehrer meist in festen Räumen unterrichten und die Schüler sich bei Stundenwechsel auf den Weg machen. Die Klassen, die ich besucht habe sind in der Regel sehr groß. 25 bis 30 Schüler sind keine Seltenheit, es gibt aber auch kleinere Gruppen, die sich dann oft damit erklären lassen, dass Schüler auf dem Weg zum bac verpflichtet sind, 2 Wahlfächer zu belegen, sogenannte spécialités. Ich konnte z.B. einen Spanisch- und einen Englisch-Kurs besuchen. sowie Mathematik auf Englisch. Diese Fächer werden 3 Jahre lang belegt, die Noten fließen in das Abschlusszeugnis ein, und es gibt auch schriftliche und mündliche Prüfungen.
Der Schultag beginnt damit, dass Schüler beim Betreten des Geländes kontrolliert werden und sich mit einer Art Schülerausweis ausweisen müssen. Diese Zugangskontrollen werden von Mitarbeitern der Schule, die keine Lehrer sind, durchgeführt. Danach startet der Unterricht pünktlich, Schüler, die zu spät kommen werden statistisch erfasst und gehen danach in die Klassen. Der Unterrichtsalltag unterscheidet sich nicht allzu sehr von unseren Gepflogenheiten, die Klassenzimmer sind mit Computer und Kamera (für die Lehrkraft) ausgestattet, viele Schüler arbeiten mit eigenen Laptops, die von der Region La Réunion finanziell bezuschusst werden. Insgesamt geht es in den Klassenzimmern etwas lebhafter und lauter zu als ich es gewohnt bin, die Lehrkräfte sind meines Erachtens toleranter im Umgang mit Lautstärke oder unterrichtsfernen Unterhaltungen, aber das kann natürlich auch einen Mentalitätsfrage sein. Ich habe während diese Woche Frontalunterricht, Gruppenarbeit, Präsentationen, kurze Leistungsnachweise und auch sonst alles gesehen, was ich aus dem Lehrer- und Schüleralltag kenne.

Nach dem bac können die Schüler weiterhin auf der Schule bleiben, um beispielsweise weitere, höherwertige Abschlüsse zu machen. ich hatte die Gelegenheit, einen Kurs zu besuchen, der ein BTS (Brevet de Technicien Supérieur) zum Ziel hat. Hier lag der Schwerpunkt im Bereich Wirtschaft und Kundenbetreuung. Im zweiten Jahr sind die Schüler – ähnlich wie bei uns – in Praktika bei Unternehmen. Darauf bereiten sie sich vor, z.B. mit Bewerbungen schreiben, das Praktikum planen oder auch eine Selbstevaluation (s.u.) sowie allgemeine wichtige Fertigkeiten, wie z.B. korrektes Auftreten.


Verwaltung und Organisation
Die Schule wird von Madame Sylvie Mondissa geleitet, die den Titel Proviseure trägt. Unterstützt wird sie von einer Stellvertreterin und einem Verwaltungsbeamten, der ausschließlich für die finanziellen Belange der Schule zuständig ist. Ferner gibt es einen hauptamtlichen Rechnungsprüfer, der ein ehemaliger Lehrer der Schule ist. Er hat sich gegen das Unterrichten entschieden und durch Fortbildung einen Concours überstanden, bei dem frankreichweit lediglich 70 von über 400 Bewerbern ausgewählt wurden. Diese Personen in der Verwaltung sind allesamt Beamte und unterstehen der Education Nationale, unterrichten gehört nicht (mehr) zu ihren Aufgaben.

Einen Posten, den sich manche Lehrkraft an bayerischen Schulen wünschen würde, ist die sogenannte CPE („Conseiller Principal d’Education“). Die beiden Damen am Lycée Sarda Garriga kümmern sich um die Absenzen, rufen bei Zweifeln bei den Eltern an und übernehmen auch sonst weitere organisatorische und verwaltungstechnische Aufgaben, wie etwa das Einsammeln von Formularen oder die Vorbereitung von schulischen Veranstaltungen. Damit können sich die Lehrkräfte auf ihre eigentliche Aufgabe, das Unterrichten, konzentrieren und haben weniger Bürokratie am Hals. Ein weiterer wichtiger Posten ist der AMI („Agent maintien informatique“), der sich um die Instandhaltung und Wartung ALLER Computer der Schule und alle technischen Details (WLAN, Passwörter usw.) kümmert. Diese Funktion wird von zwei Personen bekleidet, die ebenfalls keine Lehrkräfte sind und von der Region bezahlt werden. Die Schule verfügt ebenso über einen Dienst namens AESH, der Schüler, die aufgrund einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung Unterstützung benötigen, im Unterricht begleitet, im Unterricht Notizen macht und auch bei Prüfungen zur Seite steht. Dieser Dienst wird von der Region finanziert und angeboten. Am Lycée befinden sich mehrere Schüler, die ihn in Anspruch nehmen (z.B. ein autistischer Schüler in einem Englisch-Kurs). Eine besondere Einrichtung an französischen Schulen ist das CDI („Centre de Documentation et d’Information“), ein Ort, der gleichzeitig Bibliothek, Lern- und Begegnungsort, aber auch Betreuungsmöglichkeit und Gesprächsangebot für alle Schüler ist. Diese Einrichtung wird von zwei Damen geleitet und liebevoll gestaltet, die ebenfalls nicht unterrichten, aber fest an der Schule angestellt sind. Schließlich durfte ich noch einen Blick in die Arbeitswelt des 20(!!!)-köpfigen Hausmeister-Teams werfen („Les agents“), das allerdings neben den gewöhnlichen Tätigkeiten (kleinere Reparaturen, Rasenmähen, Aufschluss oder Müllentsorgung) auch für die Essensausgabe in der Schulkantine sowie die Reinigung der Klassenzimmer verantwortlich sind. Die Erheiterung und Verwunderung im Team waren groß, als ich erwähnt habe, dass an unserer Schule ein Hausmeister fest angestellt ist.

Fazit
Abschließend bleibt festzuhalten, dass mir der einwöchige Aufenthalt tiefe Einblicke in viele Facetten einer französischen höheren Bildungseinrichtung gewährt hat. Dass ERASMUS+ das ermöglicht, ist eine Chance, für die ich sehr dankbar bin. Natürlich erlaubt das wie bereits erwähnt keine generelle Beurteilung des französischen Schulsystems. Bei allen Unterschieden bleibt meines Erachtens doch das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern der wichtigste Faktor im Schulbetrieb. Bei allen kulturellen Besonderheiten sind in dieser Hinsicht keine Unterschiede zwischen der Aloys-Fischer-Schule und dem Lycée Sarda Garriga feststellbar. Schüler sind hier wie da ebenso engagiert oder gelangweilt/erschöpft und Lehrkräfte hoffen auf gute Mitarbeit und vernünftiges Verhalten. Im Endeffekt ist Schule halt irgendwie doch gleich Schule, auch am (fast) anderen Ende der Welt.